Vorwort:
In der praktischen Arbeit taucht immer wieder die Frage auf, wie
genau bekommt der Körper bei virtuosem Spiel diese verblüffende
Geschwindigkeit hin. Schon vor Jahrzehnten haben mir
Medizinstudenten, die zum Guitarunterricht bei mir waren,
vorgerechnet, dass das schon allein wegen der
Nervenleitgeschwindigkeit* rein rechnerisch nicht möglich sei, so
schnell zu spielen. Ganz zu schweigen von der Reaktionszeit. Es
müssen also im Laufe des Lernprozesses noch andere
Nervenverschaltungen stattfinden als die anfänglichen: -
Fingerkuppe spürt Saite - Nerv sendet das an das Gehirn - Gehirn
sagt Pull Off - Nerv sendet Befehl zum Finger - Finger macht Pull
Off.
In der Tat müssen wir einen neuen Lauf, Lick, Picking zuerst bewußt lernen. Das findet in der linken Hälfte des Gehirns statt, die die bewussten, kognitiven Prozesse steuert. Durch den Prozess des Einübens kann das mit den affektiven Vorgängen verbunden werden, die in der rechten Gehirnhälfte stattfinden. Über das pyramidale Nervensystem**, das für Feinmotorik und willkürliche Motorik zuständig ist, entsteht eine neue schnellere (kürzere) Nervenverschaltung. Es entsteht ein Reflexbogen***, der am besten über nur eine Synapse**** die kürzeste Verbindung zwischen Effektor(Nerv, der einen Reiz vom Zentralnervensystem zu den Organen weiterleitet und dort eine Reaktion auslöst) und Rezeptor (Nerv, der einen Reiz vom Zentralnervensystem zu den Organen weiterleitet und dort eine Reaktion auslöst) herstellt. Es entsteht ein unbewußtes Aktionsmuster, das der Musiker nach Bedarf abrufen kann.
Wenn man versierte Musiker bei schnellen Vorgängen beobachtet, bemerkt man, dass sie in diesem Moment gar nicht auf die Finger schauen. Und das aus gutem Grund. Beim Zusehen würden sich eventuell die linke, bewußte Gehirnhälfte einmischen und alles durcheinander bringen. Während die konditionierten Aktionsmuster ablaufen, verharrt die linke, bewußte Gehirnhälfte in einer Art mentalen Vorwegnahme des nächsten Bewegungsablaufs. Der Übergang von kontrollierten Aktionen zu konditionierten Reflexen ist zwar immer fließend, aber wenn es sich um sehr schwere Aktionsmuster handelt, muß man manchmal mental springen, das musikalische Timing hängt da bisweilen an einer hundertstel Sekunde.
In Anbetracht dieser Vorgänge müssen wir unsere Trainingsmethoden und Lernprozesse ganz neu auslegen.
Es gibt Grundvoraussetzungen wie Beweglichkeit und
Handmuskulatur, Musikalität etc., die erworben werden müssen. Im
Idealfall bringt man sich mit dem Üben des aktuellen Pickings auf
das nötige Niveau. Das verlängert aber deutlich den Prozess des
Verinnerlichens und “frißt“ eventuell die musikalische Faszination
auf. Vor allem wenn es um das dünne “muskelähnliche“ Gewebe um den
kleinen Finger und den Ringfinger geht, kann eine begleitende
Fingerübung die Abkürzung sein. Genauso verhält es sich mit der
Barréekraft und der Sehnendehnbarkeit im Handgelenk.
Danach beginnt der Prozess des Verinnerlichens. Nach meiner
Erfahrung braucht das Einüben eines komplett neuen ,
feinmotorischen Bewegungsablaufs 800 -1200 langsam gespielte
Wiederholungen, je nach .... Fingerverhältnissen und Vorkenntnissen.
Das hört sich viel an, aber wenn man bedenkt, dass man in 1 Minute
locker 10 Bewegungsabläufe unterbringt, sind das 100 in 10 Minuten
also insgesamt effektive 120 Minuten verteilt über eine Woche also
16 Minuten am Tag. Das hat auch der gestressteste Mensch zur
Verfügung.
Beim Verinnerlichen beginnt man erst in Zeitlupe das Picking zu
studieren. Nach mehreren einzelnen Bewegungen könnt ihr versuchen
einen langsamen Rhythmus zu finden. Wie lange könnt ihr den
Rhythmus durchhalten? Gönnt euren Armen eine kleine Pause. Lasst
beide Arme hängen. Bis zum Schultergelenk darf kein Muskel
angespannt sein, zählt langsam bis 5 und schaut euch dann die
Handinnenfläche an. Gibt es weiße Flecken? Wenn ja macht ihr
zuviel mit den Schultern. Das kann zu Rückenschmerzen führen. Und
das blockiert die fließende Bewegung. Denkt dran: bald nach dem
Verinnerlichen wollen wir das atemberaubende Spielgefühl des
“Flow“ erreichen. Also achtet jetzt darauf, locker zu bleiben,
alle Finger richtig zu setzen und das Zupfmuster mit den richtigen
Fingern zu spielen. Die Verinnerlichung ist dann abgeschlossen,
wenn wie von selbst eure Gedanken abschweifen und ihr trotzdem
richtig weiterspielen könnt. Spielt jetzt mit mehr Ausdruck. Also
verbessert den Kontakt von Finger zur Saite, von Saite zum
Griffbrett, betont immer mal einen anderen Finger im Zupfmuster,
etc. Jetzt kommt die Flowphase. Dazu findet ihr auf der CD oder
den MP3's Übungstakes , die euch in das gewünschte Tempo bringen
sollen. Wenn euch der Anfang zu langsam und langweilig ist, habt
ihr gut Verinnerlicht. Sucht euch ein Tempo, bei dem ihr euch am
besten fühlt (nicht gehetzt). Schreibt euch die genaue Zeit (auf
dem Display) auf, die ihr bei dem Übungstake feststellen könnt.
Ist das am nächsten Tag immer noch dieselbe Zeit, oder werdet ihr
schneller? Wenn sich das Lieblingstempo noch verändert, seid ihr
noch nicht in dem euch angemessenen Flow. Denkt dran: wenn unser
Arm einen schweren Koffer tragen muß, spannt er alle Muskeln bis
hinauf zur Schulter an. Schulter und Oberarm müssen fürs
Gitarrenspielen locker bleiben. Wir spielen nur aus dem Unterarm
und den Fingern heraus. Also hier keinen europäischen
Leistungsmasochismus (der ja sonst nützlich sein kann). Sucht den
Flow and let it go. In fast 40 Jahren Gitarre unterrichten, habe
ich noch keinen erlebt, der wenn ich ihn in den “Flow“ gebracht
habe, nicht immer danach gesucht hat, und den Flow als
originäres , wunderbares Spielsystem betrachtet hat. Jetzt habt
ihr den feinmotorischen Bewegungsablauf als konditioniertes
Aktionsmuster abrufbereit zur Verfügung. Dabei darf man sich
dieses Aktionsmuster nicht ausschließlich als simplen mechanischen
Automatismus vorstellen. Unentwegt erhält der Reflexbogen
Einflüsse(über die Pyramidenbahn) aus unserem muskilaischen
Bewußtsein. Also Betonung, Ausdruck, emotionale Konkruenz zwischen
Interpret und Person, etc. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß
beim erstmaligen Aufbau der Handkraft über die Bildung von
Tochterzellen eine Muskelerinnerung***** installiert wird, die
dauerhaft vorhanden ist. Also bitte keine Fehlhaltungen für den
kleinen Finger und den Ringfinger einüben. Nutzt dazu die Übungs-
Videos (Downloads auf Music-3000.de).
Dieses Buch soll für das Thema Fingerpicking, die Möglichkeit
bieten, alle wichtigen Grundbewegungen zu automatisieren, um sie
dann später für alle schweren Stücke ausgewogen zur Verfügung zu
haben. Der Gitarrist soll am Ende des ersten Teils ein
vollständiges Repertoire von konditionierten Aktionmustern zur
schnelleren und souveränen Bewältigung und Einübung komplexer
Stücke zur Vefügung haben.
In diesem Sinne : Let it flow.